kollektives Lernen - kollektives Vergessen?
Voranstellen muss ich ein paar Gedanken zum kollektiven Vergessen: Wie viel Wissen im Laufe der Zeit verloren gegangen ist, sollte man nicht unterschätzen. Bei genauerer Betrachtung von David Christians Gedankenexperiment, wie unten beschrieben, muss man nämlich zugeben, dass Menschen sehr viel länger (Hunderttausende Jahre) ohne all die Dinge gelebt haben, und auch überlebt haben, ohne die wir heute nicht mehr so ohne weiteres überleben könnten, weil uns schlicht das Naturwissen fehlt, also das Wissen ohne all die modernen technischen "Errungenschaften" der letzten paar hundert Jahre zu überleben.
Am Ende von Kapitel 3 seines sehr lesenswerten Buches Homo Destructor - Eine Mensch-Umwelt-Geschichte erinnert Werner Bätzing daran:
"Das außerordentliche Naturwissen der Jäger und Sammler
Am Ende dieses Kapitels (3) sei noch einmal daran erinnert, dass der Mensch am längsten als Jäger und Sammler auf der Erde lebt und dass die Zeit, in der er als Bauer existiert, im Vergleich dazu extrem kurz ist. Das bedeutet, dass auch alle heutigen Menschen noch sehr stark vom Erbe der Jäger-und-Sammler-Zeit–sowohl in Hinblick auf das biologische als auch auf das kulturelle Erbe–geprägt werden, selbst wenn uns dies nicht bewusst ist und wir diese Erfahrungen längst vergessen haben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Jäger und Sammler über eine außergewöhnlich gute, genaue und vielfältige Naturkenntnis verfügen, die bereits mit der Entstehung von Sesshaftigkeit und Landwirtschaft abnimmt. Jäger und Sammler kennen nicht nur die Eigenschaften und die Wachstums-und Verhaltenscharakteristika von sehr vielen Pflanzen und Tieren, sondern sie besitzen auch ein großes Wissen in Bezug auf aktuelle und zu erwartende Wettersituationen, in Bezug auf den Wandel der Jahreszeiten, in Bezug auf unterschiedliche Boden-, Gesteins-und Holzqualitäten und auf unterirdische Wasservorräte, und sie können mit wenigen Naturmaterialien Feuer entfachen, gezielt bestimmte Flächen mit Brandrodung baumfrei machen und vieles andere mehr. Diese Naturkenntnisse werden im Laufe der Zeit durch kulturelles Lernen immer weiter ausdifferenziert und verfeinert. Dieses Wissen um Natur liegt in qualitativer Form vor, und es betrifft alle Sinne. Es wird durch die Weitergabe der Traditionen an die nächste Generation unmittelbar vor Ort bewahrt. Dafür kommt Erzählungen, Legenden, Sagen und Mythen, die oft mit konkreten Orten verbunden sind, ein wichtiger Stellenwert zu. Bereits Bauerngesellschaften kennen die Natur schlechter als Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, und wir heutigen Menschen haben fast deren gesamtes Naturwissen verloren: Gegenüber Jägern und Sammlern sind wir fast blind und taub, haben eine verstopfte Nase, einen unempfindlichen Gaumen und einen degenerierten Tastsinn. Deshalb stellt das Naturwissen der Jäger und Sammler einen einzigartigen Erfahrungsschatz der Menschheit dar, der nicht in Vergessenheit geraten darf. Dabei geht es weniger um einen möglichen Nutzen für heute (zum Beispiel in Form neuer pharmazeutischer Produkte), als vielmehr um ihre Natur-und Umweltbeziehung und um ihre Lebensweise und Lebenseinstellung. Trotz aller Fremdheit dürfen wir sie nicht vergessen, weil der allergrößte Teil der Menschheitsgeschichte von diesem kulturellen Erbe geprägt ist.[ 69] Und da dieses Wissen nicht in schriftlich-abstrakter, sondern nur in sinnlich-konkreter Form vorliegt, kann es nur dann erhalten werden, wenn auch die Lebensform der Jäger und Sammler dauerhaft erhalten bleibt. Für eine reflektierte Umweltbeziehung des Menschen, die auch seine eigene Vergangenheit miteinschließt, ist dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit.“ (Hervorhebung von mir)
69 - Diamond, Jared (2013): The world until yesterday. What we can learn from traditional societies? Penguin Group, New York; deutsche Ausgabe: Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
Dem jedoch widmet David Christian keine angemessene Aufmerksamkeit aus meiner Sicht.
Kollektives Lernen ist ein Begriff, den David Christian verwendet, um einen Mechanismus zu beschreiben, bei dem mittels symbolischer Sprache, die Ideen einer Generation für die nächste erhalten bleiben und diese wiederum den Ideen der vorhergehenden Generation etwas hinzufügen kann.
Symbolische Sprache bedeutet ein System willkürlich (nach eigenem Ermessen) festgelegter Symbole, die durch formale Regeln (Grammatik) miteinander verbunden werden können, um eine nahezu unbegrenzte Anzahl präziser Äußerungen zu erzeugen.
In seinem Buch “This Fleeting World” (dt. diese flüchtige Welt) beschreibt David Christian ein Gedankenexperiment dazu. Er führt aus, dass den meisten Menschen nicht bewusst ist, wie sich menschliche Kommunikationssysteme auf jeden Aspekt unseres Lebens auswirken, und schlägt vor, man solle einfach mal darüber nachdenken, wie viele der Dinge, die man jeden Tag so benutzt* vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, man selber von Grund auf ohne die Hilfe anderer Menschen hätte bauen können, also auch ohne auf das Sortiment von Supermärkten und Baumärkten zurückzugreifen, denn dieses wird ja auch erst durch die Arbeit anderer Menschen ermöglicht.
* Quelle: David Christian, This Fleeting World, e-book, Pos. 596 - wobei ich das Gedenkexperiment ab dieser Stelle etwas erweitert und dem Zweck hier angepasst habe.
Auch Bibliotheken sind Orte, wo kollektives Lernen greifbar wird. Eine einfache Definition lautet, dass in jeder Generation mehr Wissen angesammelt wird, als verloren geht, so dass das Wissen insgesamt wächst. Weswegen es zunehmend wichtiger wird, dieses Wissen zu ordnen und zu strukturieren, so dass jede neue Generation sozusagen den Überblick und Durchblick bewahren kann. Big History wagt diesbezüglich den großen Entwurf.
Big History selbst illustriert das Konzept des kollektiven Lernens meines Erachtens nach sehr gut, weil es Erkenntnisse verschiedener Wissensgebiete (Disziplinen) aufgreift und miteinander verbindet, und damit das kollektiv angesammelte (gelernte) Wissen von Jahrhunderten und Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit für jedermann zugänglich macht.